Es ist kurz nach 18 Uhr an der Passhöhe des Timmelsjochs.
Dieser Moment, wo man weiß: ich hab`s geschafft! Den Ötztaler Radmarathon
gefinished! Nur noch eine Abfahrt liegt vor mir…
Vorbereitung ist alles. Gepackt für den großen Tag. |
Rückblende – es ist kurz nach 6 Uhr früh. Oberhalb von Sölden mache ich mich gemeinsam mit Michael auf den Weg zum Start. Noch ist es dunkel, unsere Radlampen erleuchten uns den Weg. Über 4000 Starter stehen bereit für ein großes Abenteuer: 238 Kilometer, 4 Alpenpässe, 5500 Höhenmeter. An einem Tag, versteht sich! Überall um einen herum gespannte Gesichter. Die Aufregung ist spürbar. Hier zupft einer an seinem Trikot herum, dort klickt ein anderer auf seinem Tacho irgendwelche Tasten. Ein anderer steckt sich die letzte Banane in den Mund und dann ist er auch schon da: der Startschuss!
Kurz vor dem Start in Sölden |
Um 06:45 Uhr setzt sich die Masse in Bewegung. Unter
Anfeuerung der doch schon zahlreichen Zuschauer geht es durch den Ortskern von
Sölden hindurch – talabwärts in Richtung Ötz. 30 Kilometer bergab; die
„Tachonadel“ zeigt beständig Werte
zwischen 40 und 50 km/h. Von der viel berichteten Hektik ist in unserem Teil
des Feldes zum Glück nicht allzu viel zu spüren, nur den ein oder anderen seltsam
unsicher erscheinenden Fahrer gilt es schnell hinter sich zu lassen. Nur keinen
Sturz in dieser frühen Phase des Rennens. Dann ein Kreisverkehr, das Feld
bremst ab. Rechts ran, raus aus dem Verkehr. Weste aus, und vor mir liegt der
erste Pass des Tages. Kühtai, und der Name ist Programm. Säumt doch das ein
oder andere Weidevieh nebst Hinterlassenschaften die 17 km lange Auffahrt.
Es läuft gut. Zum ersten Mal habe ich meinen neuen
GPS-basierten Radcomputer (Lezyne Super GPS) im Renneinsatz, welcher mir unter anderem auch meine
Pulswerte anzeigt. Leicht unterhalb der anaeroben Schwelle kurbele ich den Pass
hinauf und erreiche die Passhöhe 90 Minuten später. Das Rad kurz abgestellt,
Trinkflaschen aufgefüllt und weiter geht`s. Noch im Anstieg erreicht mich vom
Streckenrand die Nachricht, dass Robert Petzold, der Teamkapitän, aktuell auf
Platz 5 der Gesamtwertung liegt! Die Anfeuerungsrufe von Holger aus dem
Begleitteam von meinem Team „Petz Racing“ wirken sehr motivierend und so gehe
ich mit frischem Schwung in die nun folgende Abfahrt in Richtung Innsbruck. Die
gesamte Strecke ist während des Rennens für den normalen Fahrzeugverkehr gesperrt,
was natürlich auf den Abfahrten ganz neue Möglichkeiten eröffnet… So erreiche
ich auf einer langen Geraden urplötzlich die 90 km/h Marke! Oha, das war so
eigentlich gar nicht geplant. Jetzt nur nicht abrupt bremsen…
Die Strecke (und die Labestationen...) fest im Blick. |
Durch das Vorabstudium der Strecke wusste ich, dass im
folgenden Flachstück eine gut gehende Gruppe von Vorteil wäre. So kämpfte ich
mich kurz an eine vor mir fahrende Gruppe heran und fuhr mit dieser gemeinsam
durch das morgendliche Innsbruck hindurch, vorbei an der Bergisel-Skisprungschanze
und hinein in den zweiten Pass des Tages. Der Brenner. Das Thermometer zeigte
schon warme 26 Grad an. Das konnte ja noch ein heißer Tag werden!
Relativ gemächlich steigt der Brennerpass an, was viele
Fahrer dazu verleitet, den Anstieg viel zu schnell anzugehen. Ich versuchte, an
meiner Gruppe dran zu bleiben, musste dieser aber ein ganzes Stück weiter oben
ziehen lassen. Ich erreichte die Passhöhe eine Minute nach Michael, der zu
Beginn des Anstiegs wieder zu mir aufgeschlossen hatte. Nun war ich bereits in
Italien angekommen und steuerte die zweite Verpflegungszone an. Hier verlor ich
Micha leider aus den Augen. Erst im Ziel sollten wir uns wieder treffen…
Nach einer ausgiebigen Stärkung rollte ich weiter und konnte
auf der Abfahrt an eine kleine Gruppe aufschließen, mit welcher ich kurze Zeit
später hinter Sterzing in den nunmehr dritten Anstieg, den Jaufenpass, fuhr. 15
Kilometer und 1100 Höhenmeter lagen nun vor mir. Es war schon kurz nach 12 Uhr und die Hitze erreichte neue Dimensionen. 32 Grad im Schatten.
Von meiner diesjährigen Urlaubsreise mit der Familie nach
Südtirol war mir dieser Streckenabschnitt, wenn auch nur aus dem Auto heraus,
gut bekannt. Der erste Teil lag im Schatten der zahlreichen Bäume, die den Weg
säumten – das kam für alle sicher sehr gelegen. Hier rächte sich aber wieder ein
kleiner Ernährungsfehler. Im ersten Rennabschnitt hatte ich noch gut und
ausreichend gegessen; als aber am oberen Teil des Brenners schon wieder mein
Magen knurrte, ignorierte ich dies mit dem Gedanken „verdammt, ich habe doch
gerade erst gegessen!“. So kam was kommen musste. Ich wurde langsamer und
brachte nicht mehr genügend Druck aufs Pedal. Ich begann die Höhenmeter
rückwärts zu zählen. Noch 700, 600, 500. Rechts stehen ein paar Radler neben
der Strecke. Im Schatten. Ein Brunnen! Die Rettung! Flasche aufgefüllt, Helm
ab, Kopf unter Wasser. Neue Energie getankt. Wirkt! Um kurz nach 14 Uhr
erreiche ich die Labestation kurz unterhalb der Passhöhe. Und dann das Schild:
Kontrollschluss 14:25 Uhr! Ohje, so langsam bin ich doch gar nicht unterwegs?!
Ich zwinge mich zu einer nur kurzen Pause, stecke ein paar Riegel ein. Kurze
Zeit später bin ich oben. Viele Begleiter von diversen Teams sorgen hier für
eine tolle Stimmung. Aus Radios dröhnt laute Musik, Fahnen werden geschwenkt
und jeder, wirklich jeder Teilnehmer wird lauthals angefeuert.
Am Jaufenpass, fast ganz oben. |
Nachdem ich die letzten Jahre die Abfahrten für mich entdeckt habe, kann ich auf den enteilten Micha zumindest hier ca. 5 Minuten wieder hereinfahren. Im Tal angekommen, erreiche ich die Ortschaft St. Leonhard. Urlaubsgefühle kommen auf. Links geht es durch das Passeiertal hinab nach Meran und Bozen. Ich muss nach rechts. Hinauf. Zum Timmelsjoch. Der Scharfrichter des Ötztaler Radmarathons. 27 Kilometer lang mit 1700 Höhenmetern. Mittlerweile zeigt das Thermometer 35 Grad an. Was für eine Hitze! Ich kurbele los und fühle mich schon ganz schön ausgepumpt. 180 Kilometer liegen zu diesem Zeitpunkt bereits hinter mir und ich bin im Begriff, meine bisher längste Radtour überhaupt zu absolvieren…
Der Fahrstil vieler Fahrer um mich herum ähnelt hier schon
eher einer Zickzacklinie als einer geraden Schnur nach oben. Manch einer lehnt
im Schatten an einer Felswand. Leerer Blick. Ausgelaugt. Ich möchte gar nicht
wissen, wie ich selbst ausschaue… Links eine Tankstelle. Ob sie eiskalte Cola
im Angebot hat? Oh nein, es ist Sonntag! Geschlossen! Völlig demotiviert rolle
ich unter das schattige Tankstellendach, füllte an einer Wasserstelle meine
Trinkflasche auf, halte meinen Kopf nochmals darunter und sitze anschließend
mit leerem Blick auf dem Boden. Gedanken ans Aufgeben rücken näher. Aber ist
das nach dieser langen Strecke eine Option? Niemals! Soll mich der verfluchte
Besenwagen doch erstmal einholen!
An der folgenden Labestation stehen schon Busse bereit,
wartend auf die zahlreichen Gestrandeten. „Ausgeträumt?“ lacht mich zynisch ein
Werbebanner des Veranstalters an. Ich rechne. Bis 19:30 Uhr muss man an der
Passhöhe auf 2509 Metern Höhe angekommen sein. Dann ist er da. Dieser Moment,
wo man weiß: ich hab`s geschafft! Selbst wenn ich diesen Pass zu Fuß nach oben
laufe. Ich werde den Ötztaler finishen! Ab diesem Moment läuft es wieder. Alles
Kopfsache.
Kehre für Kehre schraube ich mich nach oben. Hole den ein
oder anderen Fahrer ein. Letzte Kurve, hinein in den bekannten Tunnel. Auf der
anderen Seite geht es am Grat entlang noch einige Höhenmeter hinauf bis ich das
blaue Banner durchfahre. „Da hast Du nun Deinen Traum!“, steht darauf, und ich
schlage vor Freude mit der Faust auf den Lenker. Kann mir ein lautes „Ja!“
nicht verkneifen.
Geschafft! Das passende Banner hängt direkt an der Passhöhe des Timmelsjochs. |
Es ist kurz nach 18 Uhr. Mit breitem Grinsen auf dem Gesicht
liegt sie nun also vor mir, die letzte Abfahrt des Tages. Die sengende Hitze
ist schon seit geraumer Zeit bedrohlichen Gewitterwolken gewichen. Die ersten
Tropfen erreichen mich ein ganzes Stück tiefer im Tal. Kurz vor der Ortschaft
Obergurgl öffnet der Himmel seine Schleusen und ich bin innerhalb weniger
Minuten klitschnass. Jetzt nur nicht stürzen! Eine letzte Serpentine führt
hinab nach Sölden. Vorsichtig rechts, dann links. Voller Adrenalin rase ich mit
Vollgas durch die mit tiefen Pfützen gefüllte Hauptstraße in Richtung Ziel.
Noch 200 Meter. Rechtskurve, bremsen, raus aus dem Sattel, rein ins Ziel!
Schon wieder Regen! Aber zum Glück nur kurz vor dem Ziel! |
Ich schiebe mein Rad in die FreizeitArena, suche eine Abstellmöglichkeit und entdecke eine freie Lücke direkt neben ... dem Rad von Micha! In der Halle entdecke ich ihn wieder und wir beglückwünschen uns gegenseitig zum Erreichen des Ziels. Ich hole mir, völlig unterkühlt und frierend, mein Finishertrikot ab und setze mich anschließend erst einmal mit wärmender Regenjacke auf den Hallenboden. Es dauert eine ganze Weile, bis die Anstrengung und Kälte der Regenabfahrt aus dem Körper gewichen ist.
Der Rest des Abends besteht dann aus der klassischen Pastaparty, einem verdienten Radler und dem Beiwohnen der Siegerehrung. Gegen halb zehn machen wir uns mit unseren Rädern durch den immer noch tröpfelnden Nieselregen hinauf. Die letzten 100 Höhenmeter des Tages hoch in unsere Ferienwohnung.
Für mich steht fest: Das war eine absolut geniale, perfekt organisierte Veranstaltung. Ich habe für mich mein Ziel erreicht, das Rennen zu finishen. Dabei war es spannend zu sehen, zu welchen Leistungen man fähig ist – vor allem in den Momenten, wo nur noch der Kopf entscheidet.
Dennoch, nach einigen Tagen Abstand, möchte ich hiermit das Kapitel Alpenmarathon vorerst abschließen. Nach der Tour Transalp 2013, dem Alpenbrevet 2014 und 2015, dem SuperGiroDolomiti 2015 und nun dem Ötztaler Radmarathon 2016 möchte ich meinen Fokus wieder mehr auf regionale Veranstaltungen legen. Der Aufwand mit An- und Abreise ist doch sehr hoch, auch was die zeitliche Abwesenheit von der Familie betrifft. Mal schauen, was die neue Saison so bereithält. Noch ist das Jahr ja nicht beendet...
Das Finishertrikot! |
Ich mit Didi Senft, dem Urgestein des Radsports :-) |
Toller Bericht Finn! Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass der Zeitaufwand für Vorbereitung und Durchführung solcher Großereignisse stark mit den Familieninteressen kollidiert und häufig zu Unzufriedenheit bei allen Beteiligten führt. Geht mir ja genauso. Trotzdem habe ich noch eine Sache im Kopf, die ich schon gern irgendwann mal umsetzen will: Die Transalp mit einer größeren Gruppe von uns zu fahren. Entweder die offizielle Variante oder auch privat mit Gepäcktransport...
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